Das Debakel in Afghanistan – von Fehlern, Versäumnissen und bitteren Lektionen

Die Taliban haben erneut die Macht in Afghanistan ergriffen. In den vergangenen Tagen schien kein Thema bedeutender, keines in den Medien präsenter als das Vorrücken der Extremisten und schließlich die Einnahme der Hauptstadt Kabul. Nicht zu Unrecht fragen sich nun viele Beobachter, wie ein 20 Jahre andauernder Militäreinsatz so katastrophal zu Ende gehen konnte, wie jener am Hindukusch.

Auslöser für den bewaffneten Konflikt waren die furchtbaren Anschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center. Geplant und ausgeführt wurden diese von der Terrororganisation al-Qaida, welche unter dem Schutz der Taliban Afghanistan als ihren Rückzugsort nutzen konnten. Dies sollte man in der Rückschau nicht vergessen und all jene, die am liebsten nicht auch nur einen einzigen Soldaten nach Afghanistan entsandt hätten, konnten bisher noch nicht glaubhaft darlegen, wie sie stattdessen auf die Bedrohung durch den islamistischen Terror reagiert hätten. Nach all den Jahren war die Bevölkerung in den USA aber kriegsmüde geworden, in Deutschland bestenfalls desinteressiert. Bei all dem Chaos, das man dieser Tage sehen kann, sollte man jedoch eines nicht vergessen: Das ursprüngliche und unmittelbare Ziel des Einsatzes, der Sieg über die Terrororganisation Al-Qaida, wurde erreicht. In Zukunft wird wohl keine terroristische Bedrohung für den Westen aus Afghanistan heraus ausgehen. Diese Lektion haben die Taliban scheinbar gelernt. [1] [2] [3]

An diesen Antiterrorkampf schloss sich jedoch der Versuch an, sogenanntes „Nation Building“ (zu deutsch, das Nationenbilden) zu betreiben und in Afghanistan eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu etablieren. Es bleibt fraglich, welche Erfolgsaussichten dieses Bestreben in einer ethnisch so aufgesplitterten und kulturell doch stark vom Westen abweichenden Gesellschaft je haben konnte.

Welche Fehler wurden begangen?

Fehler sind in der Vergangenheit sicherlich einige gemacht worden. Sie alle auszudeuten und zu analysieren, wird in den kommenden Jahren sicher zahlreiche Experten beschäftigen und eine Vielzahl an Sachbüchern hervorbringen. Ein entscheidender und sehr relevanter Faktor der jüngeren Vergangenheit dürfte jedoch das Abkommen sein, welches der vormalige US-Präsident Donald Trump mit den Taliban schloss. Zwar gaben die Taliban im Gegenzug zum Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan Sicherheitsgarantien und verpflichteten sich, Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung aufzunehmen. [4] Aber allein schon, dass Trump ohne Beisein jener Regierung mit den Taliban verhandelte, kann als deutliches Symbol gewertet werden. Welche Unterstützung sollte sich Präsident Aschraf Ghani ernsthaft von einem Partner erhoffen, der ihn bei den womöglich wichtigsten diplomatischen Treffen in der Geschichte des Landes nicht einbezog und zusätzlich klarstellte, schnellstmöglich aus dem Land abziehen zu wollen? Als Joe Biden das Amt des US-Präsidenten übernahm, war dieser Stein bereits ins Rollen gebracht worden. Sicherlich hat Biden Recht, wenn er danach fragt, wie viele Amerikaner noch im afghanischen Bürgerkrieg (denn nichts anderes ist oder war der Konflikt vor Ort) ihr Leben lassen sollen. Doch auch er hätte die Lage zuletzt anders beurteilen müssen und kann sich nun ebenso wenig überrascht geben, wie seine Verbündeten in der NATO.

Wie konnte es zu einer solchen Fehleinschätzung kommen?

Fraglich ist, warum man ­– sei es in Ministerien oder bei Nachrichtendiensten – den schnellen Siegeszug der Taliban nicht hat kommen sehen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas sprach noch im Juni im Deutschen Bundestag davon, dass ein Szenario, wie es jetzt eingetreten ist, nicht möglich sei. [5] Bereits in den vergangenen Wochen fielen Städte und Provinzen den Islamisten ohne nennenswerte Gegenwehr in die Hand. Ein Vormarsch auf Kabul muss demnach ein Szenario gewesen sein, mit dem die Bundesregierung rechnen musste.

Wie kann es sein, dass im Auswärtigen Amt, im Verteidigungsministerium und beim Bundesnachrichtendienst – allerdings auch nicht im verbündeten Ausland – niemand eine treffendere Vorausschau auf die Ereignisse in Afghanistan erstellen konnte? Scheinbar war man nicht davon überrascht, dass die Taliban Afghanistan zurückerobern würden, sondern lediglich über die Geschwindigkeit. Wie in den vergangenen Tagen mehreren Medien zu entnehmen war, haben diverse Geheimdienste und Ministerien der NATO-Staaten durchaus eine Rückeroberung des Landes durch die Taliban prognostiziert. Jedoch für die kommenden Monate und nicht unmittelbar nach Abzug der internationalen Truppen. [6]

Dem schließt sich die Frage an, wie die westlichen Verbündeten zu dem Entschluss kamen, die afghanische Armee wäre in der Lage, die Taliban aufzuhalten. An der technischen Ausrüstung scheiterte dieses Vorhaben nicht. Vielmehr ist wohl mangelnde Moral der Truppen ein entscheidender Grund gewesen. Stimmen die Berichte darüber, dass die Soldaten aufgrund der grassierenden Korruption keinen Sold erhielten, sollte es nicht verwundern, dass sie nicht bereit sind, sich gegen fanatische Kämpfer der Taliban mit derselben Inbrunst zu wehren, die jene seit mittlerweile vier Jahrzehnten an den Tag legen. Auch schien vielen afghanischen Soldaten nicht klar zu sein, wofür sie eigentlich kämpfen sollten. Die Afghanen sind kein homogenes Volk, sondern setzen sich aus diversen Ethnien zusammen. Deren Konflikte wurden wohl auch in die Armee getragen und scheinen so Disziplin und Kampfeswillen untergraben zu haben. Dass Talibankämpfer ungehindert durch afghanische Dörfer ziehen und Soldaten aufsuchen konnten, um ihnen und ihren Familien vor dem Hintergrund des baldigen Abzugs der ausländischen Kräfte zu drohen, tat sicherlich sein Übriges. [7] [8] [9]

Nicht nur für die USA beschämend

Ist dies nun vor allem ein Debakel der US-Amerikaner? Immerhin waren sie mit Abstand der größte Truppensteller. So einfach sollten es sich die Europäer nicht machen. Auch europäische Truppen – darunter auch die Bundeswehr – waren lange Zeit im Einsatz. 59 Bundeswehrsoldaten fielen fern ihrer Heimat.

Gerade in Deutschland schien man lange Zeit der Meinung zu sein, man könne den Bundeswehreinsatz als einen Einsatz bewaffneter Entwicklungshelfer betrachten – eine Art technisches Hilfswerk in Tarnanzug und mit Gewehren über der Schulter. Soldaten, die Brunnen bohren und Mädchenschulen bauen, sollten dem Land nach vorne verhelfen. Das diese Vorstellung mit der Realität wenig gemein hatte, drang nach und nach auch zur deutschen Bevölkerung durch.

Welche Lehren können wir aus dem Einsatz in Afghanistan ziehen?

Trotz des Debakels – oder vielleicht gerade deshalb ­– können aus den vergangenen zwei Jahrzehnten wichtige Lehren gezogen werden. Interessierte Beobachter der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik kennen die Debatte um die deutsche Verantwortung schon länger. Bereits in zahlreichen Fachaufsätzen wurde heruntergebetet, dass Deutschland mehr internationale Verantwortung übernehmen müsse. Eine Forderung, die ebenso aus einer Vielzahl europäischer Hauptstädte zu hören ist. Die Bundesrepublik muss auch machtpolitisch und strategisch denken. Die aktuellen Geschehnisse unterstreichen diese Forderung nur umso mehr. Die USA beschließen den Rückzug aus Afghanistan im Alleingang. Die Konsequenzen tragen, natürlich neben den Einheimischen, die Nachbarstaaten und die Europäer. Bereits jetzt gewinnt das Thema Migration wieder an Bedeutung, Afghanistan ist näher als manche meinen mögen. Von dem zentralasiatischen Land aus müssen die Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen wollen, lediglich den Iran und die Türkei durchqueren, schon stehen sie an den Grenzen der Europäischen Union. Dies zeigt umso mehr, dass wir vor den Problemen der Welt nicht einfach unsere Augen verschließen können. Über kurz oder lang werden sie uns einholen.

Für künftige (westliche) Militärinterventionen können aus der Zeit in Afghanistan diverse Schlüsse gezogen werden. Einige davon sind die Folgenden:

  1. Es ist wichtig, überprüfbare Ziele zu setzen. Wieso, aus welchem Grund, soll Militär in einem Land intervenieren? Was soll es erreichen? Wann genau sind die Ziele erreicht und was sind die Meilensteine und Endpunkte, die eine Mission beenden? All das muss künftig im Vorfeld eines Auslandseinsatzes klar definiert werden. Denn einen Grund, noch länger zu bleiben, findet man immer.
  2. Die Bundeswehrsoldaten sind keine bewaffneten Entwicklungshelfer! Sollte ein Auslandseinsatz der Armee erwogen werden, sollten wir der Bevölkerung echte, sicherheitspolitische Argumente für einen Einsatz mitgeben und ihr zutrauen, darüber eine Debatte zu führen.
  3. Terroristische Aktivitäten sind eine Verkettung zahlreicher Schritte und Stufen. Sie allein mit militärischen Mitteln verhindern zu wollen, ist unrealistisch. Vollständig auf militärische Mittel zu verzichten, jedoch ebenso.
  4. Demokratische Systeme in Nachkriegsgesellschaften aufzubauen ist langwierig und mühselig. Erst recht in anderen Kulturen. Man möge sich allein einmal vor Augen führen, wie lange es in Europa gedauert hat ­– begonnen mit der Französischen Revolution 1789 – bis demokratische Regierungen der Normalfall waren.

Für die meisten Menschen in Afghanistan ist die Rückkehr der Taliban zu Macht – milde ausgedrückt – sehr bitter. Hoffen wir, dass wenigstens der Westen einige Lehren daraus ziehen wird.

Der Standpunkt wurde geschrieben von Gregory Meyer, Mitglied der Jungen Union im Gemeindeverband Rülzheim.

[1] Deutschlandfunk Nova, „Taliban und Terror – Politologe: „In Zentralasien ist die Gefahr am größten““, 18.08.2021, https://bit.ly/3z5YT7a

[2] Sicherheitshalber, „Folge 43: Afghanistan: Was bleibt? | Zukünftige Auslandseinsätze: Koalitionen der Willigen (k)eine Option?“, 09.05.2021, https://bit.ly/3k7K2mC

[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Die Angst vor einem Neustart von Al-Qaida“, 19.08.2021

[4] Deutsche Welle, „USA stellen Abkommen mit Taliban auf Prüfstand“, 23.01.2021, https://bit.ly/3swzgtJ

[5] Der Tagesspiegel, „Kabul fällt an die Taliban – Bundesregierung schätzte die Lage in Afghanistan falsch ein“, 15.08.2021, https://bit.ly/3AV9PFs

[6] Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Wer wann wie versagt hat“, 17.08.2021 (uvm.)

[7] Deutschlandfunkt Kultur, „Afghanistan: Wieso haben die Taliban so schnell gesiegt? Interview mit Christian Mölling“, 16.08.2021, https://bit.ly/3syTy6c

[8] Süddeutsche Zeitung, „Warum die Regierungsarmee so wenig Widerstand leistete“, 17.08.2021, https://bit.ly/3k78OTZ

[9] Deutschlandfunk, „Interview mit Wolfgang Ischinger, Leiter Sicherheitskonferenz, zu Afghanistan“, 20.08.2021, https://bit.ly/2WdTpIX


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