Man stelle sich vor: Eine Partei bekommt in einem Bundesland 40 Prozent der Stimmen. Sie gewinnt 40 Direktmandate. Bundesweit erhält sie anteilig knapp unter 5 Prozent. Geht es nach den Ampelfraktionen, dürfen die Gewählten künftig nicht ins Parlament einziehen. Warum ich das für einen bedenklichen Scherz halte:
Die Wahlrechtsreform soll in ihrer Konsequenz den Deutschen Bundestag auf 630 Abgeordnete verkleinern. Dieses Ziel teile ich, beurteile aber den konkreten Wahlrechtsbeschluss von SPD, Grünen und FDP aus mehreren Gründen als juristisch fragwürdig und schlecht für unsere Parlamentskultur.
Erstens, die Reform gefährdet die direkte Repräsentation der Regionen. Die Legitimität des parlamentarischen Systems beruht wesentlich darauf, dass Bürgerinnen und Bürger durch von ihnen gewählte Abgeordnete bei der Gesetzgebung vertreten werden. Neben den über die Landesliste gewählten Abgeordneten haben sich bisher vor allem direkt gewählte Abgeordnete für die Bürger in ihrem Wahlkreis starkgemacht. Diese Dualität des Wahlsystems prägt seit 1953 die politische Repräsentation in Deutschland. Eine Reform, die die Direktwahl entwertet, gefährdet die oft Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik, denn diese fußt auf der sorgfältigen Verzahnung von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Zudem ist in Zeiten der Globalisierung die angemessene Repräsentation regionaler Belange für die Bürgerinnen und Bürger umso mehr von Gewicht. Ein Modell, bei dem gewählte Direktkandidatinnen und Direktkandidaten nur dann ein Mandat erhalten, wenn und soweit es dem anhand der Zweitstimmen ermittelten Proporz entspricht, dämpft die Bedeutung der Wahlkreisabgeordneten drastisch und greift die parlamentarische Vertretung von Wählerinteressen an. Dieser Effekt benachteiligt insbesondere umkämpfte Wahlkreise in ländlichen Regionen. So besteht die Gefahr, dass auch die Südpfalz künftig nicht mehr direkt im Parlament vertreten sein könnte. Auch die indirekte Repräsentation der Südpfalz wäre abhängig von den kandidierenden Listen der Parteien. Die Bürgerinnen und Bürger hätten hierauf keinen Einfluss mehr. Es droht der Verlust der Repräsentation von ganzen Regionen im Deutschen Bundestag.
Zweitens, die Reform wird nicht von allen demokratischen Parteien getragen. Aus meiner Sicht sollte eine Wahlrechtsänderung immer von einer breiten Mehrheit im Parlament und in der Gesellschaft befürwortet werden. Durch politisierte Änderungen mit knappen Mehrheiten droht das Wahlrecht zum Gegenstand der tagespolitischen Auseinandersetzung zu werden. Ein Beispiel für eine solche Entwicklung sind die USA. Hier versuchen die Parteien durch Neueinteilung der Wahlkreise, das sogenannte Gerrymandering, die Wahlergebnisse zu ihren Gunsten umzukrempeln. Eine Zweidrittelmehrheit sollte mithin Voraussetzung eines Wahlrechtsbeschlusses sein, wäre aber bei der von der Ampelkoalition an den Tag gelegten disruptiven Manier unmöglich.
Drittens, die Reform könnte unbeabsichtigte Folgeerscheinungen haben, die bisher nicht einmal diskutiert wurden. So könnte die Neuzuteilung von Direktmandaten den misslichen Anreiz setzen, auf eine Direktkandidatur für eine Partei zu verzichten und parteiunabhängig anzutreten, da eine erfolgreiche Direktwahl als Kandidat einer Partei keinen Einzug mehr in den Bundestag sichert. Parteiunabhängige Kandidatinnen und Kandidaten bedeuten dann wiederum als neue Form der Überhangmandate eine Abweichung der Zusammensetzung des Parlaments vom Zweitstimmenergebnis. Die Wahlrechtsreform der Ampel bedeutet nicht nur den beispiellosen Bruch mit gelebten demokratischen und parlamentarischen Traditionen, sondern untergräbt auch Parteien als Organ der Meinungsbildung, dass gewählten Wahlkreissiegerinnen und Wahlkreissiegern erstmalig ein Sitz im Bundestag entzogen wird, könnte auch bei den Wählerinnen und Wählern auf Unverständnis stoßen. Eine sinkende Akzeptanz der repräsentativen Demokratie ist zu befürchten. Über ein Normenkontrollverfahren muss nach dem Beschluss des Bundestages gesprochen werden, denn die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition könnte vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft werden. Der Obmann der Unionsfraktion in der Wahlrechtskommission, Ansgar Heveling, kündigte eine entsprechende Klage gegen das neue Wahlrecht bereits an.
Aus meiner Sicht wäre eine Reduzierung der Anzahl von Wahlkreisen mit Einbeziehung eines Flächenfaktors die wünschenswerte Lösung. Sie würde den Charakter der Wahl als personalisierte Verhältniswahl und die direkte Repräsentation aller Regionen im Parlament sichern. Dabei würden unter anderem die Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise, die Erhöhung der Regelgröße für Listenmandate auf 320, die Erhöhung der unausgeglichenen Überhangmandate auf die zugelassene Anzahl von 15 und die Anhebung der Grundmandatsklausel in das geltende Wahlrecht implementiert werden. Darüber hinaus schlägt Wolfgang Schäuble gegenüber dem „Spiegel“ Stichwahlen absolut mehrheitlich gewählter Abgeordneter im Parlament vor. Die andauernden Bemühungen um eine Rückführung der Anzahl der Abgeordneten in Richtung der gesetzlichen Größe von 598 Mitgliedern dürfen grundsätzliche demokratische Traditionen nicht aushöhlen, um die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie nicht zu gefährden.
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